Hierin liegt der wesentliche, tiefere Sinn des Taijiquan.
Gesundheitsübung und Kampfkunst sind in gewisser Weise „nur“ ein Medium ganzheitlicher – letztlich spiritueller – Selbstentwicklung.
Wir ergründen unsere innere Natur, den Kern unserer Existenz.
Das tun wir, indem wir, unseren Geist leer und wach werden lassen und unsere Aufmerksamkeit nach innen richten. Der Geist hat so die Chance, sich selbst und seine Natur zu erkennen.
Wir tun das in Bewegung genauso wie in Ruhe. Sogar im Kampf. Das ist das besondere an der Meditation des Taijiquan: Unsere Entspannung und Bewusstheit wird belastbar, alltagstauglich.
Wir erfahren Meditation, den Zustand eines leeren und wachen Geistes „Wuji“, in dem wir uns mit der Natur „Dao“ und allen Wesen verbunden fühlen.
Hilfreich ist dabei das Studium der buddhistischen und daoistischen Philosophie, die dem Taijiquan zugrunde liegt. (Diese widerspricht übrigens keinesfalls der christlichen Religion und Weltanschauung, sondern es gibt viele Gemeinsamkeiten, die uns die Lehren Jesu sogar besser verstehen lassen.)
Buddhismus:
Buddha (= dem „Erleuchteten“) ging es um die Überwindung des Leidens. Er lebte um 500 vor Chr. in Indien. Den Kern seiner Lehre postulierte er in seinen „Vier edlen Wahrheiten“. Die Praxis dazu ist der „Achtfache Pfad“. Seine ausführliche Lehre ist im „Pali-Kanon“ zu finden.
[start_content][content spalten=2]Die Vier edlen Wahrheiten
1. Leben beinhaltet Leiden, da alles vergänglich ist.
2. Das Leiden wird durch Leidenschaft verursacht (Anhaftung / Begierde, Neid, Hass, Unwissenheit).
3. Die Befreiung von der Leidenschaft beendet das Leiden.
4. Die Befreiung vom Leiden folgt einer Methode, dem Achtfachen Pfad.[/content]
[content spalten=2]Der Acht-fache Pfad
1. Rechte Erkenntnis
2. Rechter Entschluss
3. Rechtes Reden
4. Rechtes Handeln
5. Rechter Lebenserwerb
6. Rechte Anstrengung
7. Rechte Achtsamkeit
8. Rechte Sammlung / Meditation[/content][end_content]
Daoismus
Laozi ( der „Alte Meister“) war ein Zeitgenosse Buddhas. Er beschäftigte sich mit dem Kern der Natur. Er gilt als Begründer des Daoismus und schrieb das „Daodejing“, den Klassiker von WEG und TUGEND. (Vom diesem Werk gibt es eine vom meinem Lehrer Jan Silberstorff kommentierte Ausgabe, die ich sehr empfehle. Auch „Das wahre Buch vom südlichen Blütenland“ von Dschuangzi ist sehr lesenswert, und etwas leichter zu lesen ;-))
Das DAO ist zugleich Weg, gehen, als auch Ziel; gleichsam bedeutet es Natur, Naturgesetz, Ursprung allen Seienden. DE bedeutet Tugend / Natürlichkeit, es ist der Ausdruck des Dao in der Welt. Das Dao selbst kommt aus dem WUJI (der Leere) und erzeugt das TAIJI (die Polarität / Yin und Yang). Wuji und Taiji sind gleichzeitig vorhanden, wie zwei Seiten einer Medaille.
Laozi betont, wie wichtig es ist, sich ganz seiner inneren Natur hinzugeben.
Diese innere Natur ist identisch mit der großen Natur des Kosmos, die alles durchdringt.
Somit sind wir mit allem und jedem verbunden, eine große Einheit. Die Natur ist mit dem Verstand nie vollständig zu erfassen, wohl aber intuitiv durch Meditation.
Sind wir mit allem verbunden, gibt des keinen Gegner mehr – und keinen Kampf.
Die daoistische Energiearbeit,
die Innere Alchemie, bringt Körper und Geist in gesunde Harmonie und stellt einen Weg zur „Erleuchtung“ dar. Sie ist die gemeinsame Quelle der TCM (Traditionelle Chinesische Medizin), des Taijiquan und der daoistischen Meditation.
Ich selbst erkläre unser Wesen gerne mit dem Schichten Modell. Inspiriert dazu haben mich die Theorien von Wilhelm Reich, Schüler von Sigmund Freud und Begründer der Charakteranalyse und Körperpsychotherapie.
Schichten-Model:
- Der letztendliche Kern unseres Wesens ist die Leere. Diese ist identisch mit Wuji oder Dao.
- Dieser Kern äußert sich in der nächsten Schicht in unserer Natur. Hier liegen unser Instinkt, unsere Triebe und natürlichen Bedürfnisse sowie unsere Gefühle. Diese Schicht entspricht dem Taiji. Hier agiert unser autonomes Nervensystem auf natürliche Weise.
- Durch Reibung mit der Gesellschaft und durch unsere Unwissenheit entsteht eine weitere Schicht: Unsere Leidenschaften (Hass, Eifersucht, Gier, Perversion, Neurosen …). Die in dieser Schicht aufflammenden Emotionen bringen unser Vegetativum aus dem Gleichgewicht.
- Unsere äußerste Schicht ist die Tarnung: Häufig sind wir hier nett, brav, angepasst – egal ob das unseren inneren Empfindungen entspricht. Diese schicht kann sich aber auch in anderen Rollen oder Charakteren ausdrücken. Es ist unsere Überlebensstrategie. Wilhelm Reich beschreibt diese Schicht als „Charakterpanzer“.
Auf unserem Lebensweg geht es nun darum, unsere Leidenschaften zu überwinden und zu unserer Natur und unserem Kern zu kommen. Dann kann unser inneres Licht durch unser Wesen hindurchstrahlen – und die Tarnung wird überflüssig. Wir werden dazu fähig, Großes zu bewegen.
Oft wird durch diesen WEG unser gesamtes Leben komplett umgekrempelt – transformiert.
Auf diesem Weg begegnen uns zwei Hindernisse:
- Es ist oft schwierig, natürliche Impulse und Leidenschaften voneinander zu unterscheiden.
- Die Macht der Gewohnheit sowie die Angst vor dem Neuen halten uns zurück. Nelson Mandela beschreibt es treffend als die Angst vor unserer eigene Größe.
Taijiquan hilft auf vielfältige Weise uns auf diesem Weg: Die natürlichen Bewegungen bringen uns unserer inneren Natur näher und machen uns diese bewusst. Wir spüren förmlich das Jubeln unserer Zellen darüber, dass jetzt etwas „stimmt“. Die Energiearbeit schmilzt unseren Charakterpanzer von der körperlichen Ebene her sanft auf. Das Richten der Aufmerksamkeit nach innen hilft uns dabei, Natürlichkeit und Leidenschaft voneinander zu unterscheiden und unser Wesen zu erkennen. Die Kampfkunst lässt unser Selbstvertrauen wachsen und hilft, über Ängste hinaus zu wachsen.
Noch ein Tipp zum Finden von Entscheidungen in besonderen Lebenssituationen:
Das I GING (Buch der Wandlungen) von Konfuzius
Es ist als Orakel ein hervorragender Ratgeber und als Weisheitsbuch eine wunderbare Orientierung. Das I Ging ist ein uraltes Werk, das in die Wurzel der chinesischen Kultur zurückreicht. Konfuzius, auch ein Zeitgenosse von Laozi und Buddha, hat es zusammengefasst und kommentiert.
Ich empfehle die Übersetzung von Richard Wilhelm.